Ein halbes Jahr Taiwan wollte ich als Krönung meines Studiums in Sinologie in Kaohsiung, einer 1,5 Millionen Metropole im Südwesten der Insel verbringen. Hier habe ich viel Zeit nicht nur um meine Sprachkenntnisse zu verbessern, sondern auch um Land und Leute kennen zu lernen.

Der Alltag besteht in Kaohsiung aus fleißigem Studium und einem zum Teil mühsamen Anpassen an die unbekannt Umgebung und ihre Gebräuche. Die taiwanesischen Schüler und Studenten nehmen ihr Studium sehr ernst, von Freizeit kann man zum Teil gar nicht sprechen. Die Taiwanesen und Taiwanesinnen, die ich treffe, sind hin und hergerissen zwischen dem modernen Auftreten Jugendlicher und den traditionellen Wertebildern, die zum Beispiel absoluten Gehorsam gegenüber den Eltern und auch Keuschheit bis zur Ehe vorsehen.

Auch grundlegende Bedürfnisse werden hier anders erfüllt. Wer in Taiwan hungrig ist, geht in der Regel auswärts essen, das ist hier in der Tat billiger. Und da ich über keinerlei Kochmöglichkeit verfüge, ist es für mich auch die einzige Option, um an warmes Essen zu kommen, wenn es nicht gerade die unvermeidliche Instantnudelsuppe sein soll. Ich als Vegetarier orientiere mich an Lokalen, die für die buddhistische Gemeinde gedacht und dem entsprechend mit einem Swastika, dem Zeichen für Überfluss und langes Leben, gekennzeichnet sind. Typisch sind Fleischersatzprodukte. Der taiwanesische Vegetarier schmeckt im Prinzip genau das, was der Fleischesser auch zu sich nehmen würde. Dass viele Wirte ihrem Essen heimlich richtiges Fleisch beimischen, was den hohen Kosten für die Produktion des Fleischersatzes geschuldet ist, ist dabei ein Wehrmutstropfen.

Mein blondiertes Haar färbe ich bald dunkel, um weniger aufzufallen, wir Ausländer sind in unserem Viertel in Kaohsiung, dem Sanming District, bunte Hunde: Jeder kennt uns und wer uns nicht kennt und zufällig erblickt, der erstarrt in seiner Bewegung, selbst wenn er gerade die Stäbchen zum Munde führt. Die Taiwanesen sind uns gegenüber offen und interessiert, oft werden herzliche Einladungen von Freundinnen und Bekannten ausgesprochen, die ich gerne annehme. Dass ich als Gast dabei fast so sehr umsorgt werde, dass es mir unangenehm ist, ist dabei eine Selbstverständlichkeit. So entdecke ich das Land und seine Eigenarten nicht nur zusammen mit meinen europäischen Kommilitonen, sondern auch gemeinsam mit Cai-Ni oder Chiawen, nächtige in herrschaftlichen Häusern oder düsteren Hütten. Eindrucksvoll prägen sich dabei Ausflüge und Alltag ein.

Ich erlebe Einzigartiges, wie einen Taifun, der Menschen mit 200 km/h durchs Land pustet, mache Luftschutzübungen für den meiner Meinung nach höchst unwahrscheinlichen Fall eines Angriffes von Festlandchina mit oder spaziere auch oft einfach gemütlich durch die schönen Ecken von Kaohsiung am Love River entlang.

Der Affenberg, der Houzi Shan, lockt mit einem düsteren Märchenwald, in dem die Spaziergänger Treppen zum Aufstieg benutzen können. Taiwanesen bevorzugen es, die Landschaft besucherfreundlich anzulegen, wilde Natur ist hier nicht gerne gesehen. Vielleicht nicht ganz ohne Grund: Am Fuß des Berges müssen die Schach spielenden alten Männer ihre Stühle auf Bäumen befestigen, wenn sie sie nicht benutzen, damit sie nicht von den Affen gestohlen werden. Einen tollen Blick auf die Stadt erhält man von der Insel Chichin aus, die mit der Fähre zu erreichen ist. Wunderliche Welten liegen in Taiwan eng bei einander.

Auch außerhalb meiner neuen Heimatstadt gibt es viel zu entdecken.

Chiawen lädt mich und meine europäischen Kommilitonen nach Pingtung in ihr Elternhaus. Erster Stopp ist die einzige hiesige Sehenswürdigkeit, ein Haus aus der Qing-Zeit. Kein Vergleich zu mittelalterlichen Burgen wie man sie aus dem Europa derselben Epoche kennt – wir würden am liebsten einziehen. Ebenso herrschaftlich zeigt sich das Haus von Chiawens Familie komplett mit Flügel, kristallenen Lüstern und fast leeren hochmodern eingerichteten Räumen. Hier fühlen wir uns fast unwohl. Ein Ausflug ans Meer, an den Strand von Kenting, heitert uns auf. Chiawen ist begeistert davon, wie weiß meine Haut ist. Ich nicht. Das Schönheitsideal in Taiwan ist ein anderes.

Ich besuche Chiawens Familie ein zweites Mal in Pingtung, um von dieser Basis aus die idyllische kleine Insel Xiao Liuqiu zu besuchen. Unser ursprünglicher Plan war, Xiao Liuqiu auf einem Roller zu umrunden, ganz auf die taiwanesische Weise. Weder ich noch Chiawen sind jemals Roller gefahren, bei der Vermietung wird allerdings nach einem Führerschein erst gar nicht gefragt. Einen Helm bekommen wir nur, weil ich darauf bestehe – schließlich wollte ich uns nicht beide umbringen. Chiawen weigert sich zu fahren, weil sie es sich, nachdem sie am Vortag noch mit ihren Kenntnissen geprahlt hatte, doch nicht zutraut.

Die zwielichtigen Gestalten von der Rollervermietung schauen im Verlauf dieser Diskussion immer skeptischer drein. Ich lasse mir die Funktionen des fahrbaren Untersatzes erklären, auf chinesisch verstehe ich auch immerhin jedes zweite Wort. Ich mache eine kleine Testrunde, denn es ist fünf Jahre her, dass ich meinen Motorradführerschein gemacht habe und seitdem bin ich nie wieder auf zwei motorisierten Rädern gefahren. Das läuft gut bis zum Wendemanöver, das mit einem Zusammenprall mit einem anderen Rollerverleih endete. Zu Schaden kommen mein Gefährt, ein weiterer Roller und ein Tisch. Die Kosten belaufen sich auf umgerechnet moderate 14.35 Euro. Und passiert ist mir… nichts bis auf ein paar Schrammen, die sofort von ein paar Mütterchen versorgt wurden, die zur Hilfe eilen. Roller fahre ich nie wieder.

Bei unserer folgenden Wanderschaft begrüßen wir es, dass die Sonne nicht scheint, denn sonst wäre sie zur Qual geworden. Enttäuscht war ich erst am Strand – Chiawen begrüßte natürlich die Umstände, da sie nicht gebräunt werden möchte. Auf dem Rückweg beginnt es zu nieseln bis schließlich ein richtiger Guss vom Himmel kommt, so dass das Wasser innerhalb von zehn Minuten in den Schuhe stand. Selbstverständlich finden wir gleich am Straßenrand Stände, an denen uns Regenschirme verkauft werden.

Ein weiterer Trip führt mich in zukunftsorientiertere Welten. Mit meinem Kommilitonen Pierre reise ich mit dem bequemen High Speed Train nach Taipeh, in die moderne Hauptstadt Taiwans. Erster Stopp nach unserer heruntergekommenen Unterkunft ist das 101, wenn auch nicht mehr das höchste, so doch immer noch eines der höchsten Gebäude der Welt. Im Inneren fühlt man sich zwischen Geschäften von Designern wie Dior und Calvin Klein sowie künstlichen Gärten aus Plastik in eine ferne Zukunft versetzt. Die Gestaltung dieses Bauwerks hat den Charme eines Raumschiffs, bietet aber einen herrlichen Blick über die Stadt.

Wer Taipeh besucht und seine Reise auf den Norden Taiwans beschränkt, sollte Danshui besuchen. Dieser recht touristisch orientierte Ort besitzt einen ganz eigenen Charme und eignet sich hervorragend für gemütliche Spaziergänge am Meer entlang. Von der Hauptstadt aus ist er problemlos zu erreichen.

Cai-Ni ist eine nicht ganz taiwanesische Taiwanesin – sie scheut Bewegung nicht begegnet meinen romantischen Anwandlungen in Bezug auf Mutter Natur wenn auch nicht mit Verständnis, so doch mit Rücksicht. So reisen wir zusammen nach Keelung im Norden Taiwans. Dort können wir bei ihrem Onkel unterkommen.

Von hier aus fahren wir an unser erstes Ziel, nach Fulong, wo wir den 8,5 Kilometer langen Caolin Historic Hiking Trail bis nach Dali abmarschieren. Und wir sind nicht die einzigen mit dieser Idee, das Wochenende wird gerne für Ausflüge genutzt. Die Massen an Menschen gestalten den Aufstieg etwas anstrengend und wir werden oft aufgehalten. Trotzdem lohnt es sich allein für die berauschende Aussicht auf dem Gipfel.
Am Sonntag besuchen wir das Goldmuseum in Jinguashi. Interessant war für mich weniger das Gold, sondern vielmehr die Landschaft und das Haus von Prinz Hirohito aus der Zeit der japanischen Besatzung.

Der Weg nach Bitoujiao ist von einer wilden Ansammlung an Gräbern am Rande gesäumt. Vor Ort erwartet uns eine Landschaft wie von einem anderen Planeten. Seltsame Felsformationen erstrecken sich direkt am Meer. Von diesem abgelegenen Ort aus erwischen wir zum Glück ein Taxi nach Jiufen. Diese einerseits sehr touristische und andererseits sehr traditionelle Stadt verbreitet ein zauberhaftes Flair: Sie schmiegt sich an einen Berg, weshalb die Gehwege auch hier zum Teil aus Treppen bestehen.

Weitere Ausflüge führten zum Beispiel ins gemütliche Tainan mit seinen traditionell anmutenden Gassen oder auch zu Taiwans beliebtestem touristischen Spot, zur Taroko Schlucht. Mit Cai-Ni fahre ich nach Hualien, die Fahrt ist mehr als bequem und unser Hotelzimmer übertrifft alle Erwartungen. Wir wollen die Schlucht auf Schusters Rappen erkunden, haben allerdings nicht damit gerechnet, dass die Entfernungen zwischen den einzelnen Wanderwegen kilometerweit sind. Es gelingt uns aber, eine Bustour für den folgenden Tag zu organisieren, die mehr hält als ich erwartet hätte. Spaziergänge sind mit eingeplant, ich bin begeistert von den Ausblicken. Am Ende führt noch ein letzter Stopp ans Meer.

Den Abend verbringen wir in Ruishui, wo wir die heißen Quellen in einer Unterkunft im japanischen Stil genießen. Bei der Kälte ist das genau das Richtige. Die Taxifahrerin, die uns hinbringt, wundert sich, ob wir Schwestern seien?
Der nächste Weg führt uns nach Taitung. Wenn ich bis jetzt das Gefühl hatte, dass alle taiwanesischen Städte riesig seien, werde ich nun eines Besseren belehrt. Eine dörfliche Atmosphäre empfängt uns. Im Schneckentempo geht es mit dem Bus nach Xiaoyeliu, wo uns mal wieder eine Mondlandschaft erwartet, an deren Ende sich die türkise See aufbäumt. Durchgefroren und zufrieden machen wir uns schließlich auf den Heimweg.

Mein letzter Trip in Taiwan führt an einem der kältesten Tage des Jahres nach Miaoli. Ich habe mit Cai-Ni ihr Heimatdorf bei Taizhong besucht. Dörflicher geht es nicht, die Hütte verfügt über fließend eiskaltes Wasser, die Toilette befindet sich im Freien, wahlweise kann auch ein Nachttopf genutzt werden. Die Einrichtung erinnert an das Mittelalter. Weder Großvater noch Großmutter sprechen eine Sprache, der ich mächtig bin. Großvater stört es nicht, er führt trotzdem ausgiebige Monologe auf Hakka während ich höflich grinse. Nach unseren Spaziergängen durch die Natur sind wir sehr froh über die dicksten Decken des Hauses und ein vorsintflutliches Heizgerät. Trotz der Kommunikationsprobleme werden Einladungen für die Zukunft ausgesprochen. Vielleicht komme ich wieder, wer weiß.

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